Ein öffentlicher Auftraggeber vergab in einem europaweiten offenen Verfahren Rohbauarbeiten zur Sanierung eines Polizeipräsidiums. Die Angebotsfrist endete am 04.03.2022. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Infolge des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine kam es seit dem 24.02.2022 zu starken Preissteigerungen bezüglich sämtlicher Rohstoffe. Ein Bieter wurde im Rahmen der Angebotswertung ausgeschlossen. Nach erfolgloser Rüge stellte dieser Bieter einen Nachprüfungsantrag und machte u.a. geltend, dass die fehlende Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln vergaberechtswidrig sei, da zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe die Preisentwicklung wesentlicher Baumaterialen nicht kalkulierbar war – mit Erfolg!
Die Vergabekammer Westfalen entschied, dass der Auftraggeber dem Bieter ein ungewöhnliches Wagnis auferlegte und somit das bieterschützende Gebot gemäß § 7 Abs.1 Nr. 3 EU VOB/A verletzte. Denn Bietern darf kein ungewöhnliches Wagnis auferlegt werden für Umstände und Ereignisse, auf die sie keinen Einfluss haben und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen nicht im Voraus abschätzbar sind. Das bedeutet aber nicht, dass dem Auftragnehmer gar kein Wagnis auferlegt werden darf. Gewöhnliche Wagnisse, wie etwa die Beschaffenheit und Finanzierbarkeit von Materialien oder Preisrisiken, die dem Bieter in dem jeweiligen Marktsegment obliegen und vertragstypisch sind, gehören gerade zum Wesen der Privatautonomie und sind daher von ihm zu tragen.
Ob eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation noch zumutbar ist, ergibt sich nach Abwägung der Interessen des Bieters und des Auftraggebers im jeweiligen Einzelfall. Hier tritt das Interesse des Auftraggebers an den Vergabeunterlagen festzuhalten und keinen kalkulatorischen Ausgleich zu schaffen hinter dem Bieterinteresse an einer realistischen Angebotskalkulation zurück. Insbesondere sei es dem Auftraggeber möglich und zumutbar gewesen, dem Bieter mittels einer Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln entgegenzukommen, so die Vergabekammer.
Zudem erklärte die Vergabekammer, dass die Regelung des § 7 Abs. 1 Nr. 3 EU VOB/A nicht nur für die Leistungsbeschreibung gelte, sondern auch allgemein für die Vertragsverhandlungen und den Vertragsabschluss. Damit sind auch Risiken erfasst, die erst nach Zuschlagserteilung im Rahmen der Leistungserbringung entstehen können.