Das OLG Düsseldorf nahm zur derzeit vieldiskutierten Frage Stellung, ob die neuen EU-Vergaberichtlinien auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu beachten sind. Eine Vorwirkung der noch nicht umgesetzen Richtlinien bejaht der Vergabesenat jedenfalls, wenn die betreffende Bestimmung hinreichend bestimmt ist und die Mitgliedstaaten keinen Spielraum bezüglich ihrer Umsetzung haben.
Zuschlagskriterien – „in Verbindung mit dem Auftrag stehend“?
Ausgangspunkt war die Frage, ob der Auftraggeber bei der Vergabe eines Rabattvertrages über Arzneimittel das Zuschlagskriterium „Patienten- oder Begleitprogramm“ aufstellen durfte. Art. 53 Abs. 1 lit. a) der noch geltenden Richtlinie 2004/18/EG verlangt, dass Zuschlagskriterien mit dem Auftragsgegenstand „zusammenhängen“. Weiter ist die Formulierung in Art. 67 Abs. 1 S. 2 der Richtlinie 2014/24/EU: Danach ist ausreichend, dass das Zuschlagskriterium überhaupt mit dem Auftragsgegenstand „in Verbindung steht“. Nach Art 67 Abs. 3 der Richtlinie 2014/24/EU ist das schon dann der Fall, wenn sich das jeweilige Kriterium in irgendeiner Hinsicht und in irgendeinem Lebenszyklus-Stadium auf die ausgeschriebenen Leistungen bezieht. Auf diese weite Auslegung hat das OLG Düsseldorf bei seiner Entscheidung abgestellt und das gewählte Kriterium nicht beanstandet.
Umsetzungsfrist läuft – Richtlinie trotzdem zu beachten!
Dass die Umsetzungsfrist der Richtlinie 2014/24/EU noch bis 16.04.2016 läuft, steht der Anwendung einzelner Bestimmungen nicht entgegen, so der Vergabesenat weiter. Schon in älteren Entscheidungen hat der EuGH unter Berufung auf den „effet utile“-Grundsatz bekräftigt, dass Mitgliedsstaaten keine Maßnahmen ergreifen dürfen, die geeignet sind, die Ziele von schon verabschiedeten Richtlinien zu vereiteln (EuGH, 18.12.1997, Rs. C-129/96). Der BGH (05.0.2.1998, I ZR 211/95) hat sich dieser Auffassung angeschlossen.
Voraussetzung ist aber, dass die betreffende Richtlinienbestimmung hinreichend bestimmt ist und der Mitgliedstaat keinen Spielraum bezüglich der Umsetzung der Bestimmung hat. Unter diesen Bedingungen wird die Gesetzgebungskompetenz des Mitgliedsstaates mit der vorzeitigen Anwendung einer Richtlinienbestimmung nicht untergraben. Denn dieser hat keine eigene Entscheidungshoheit darüber, ob die Bestimmung anzuwenden ist.
Welche Regelungen sind betroffen?
Demnach stellt sich die interessante Frage, welche weiteren Regelungen hiervon betroffen sind. Hier bleibt dem Juristen wieder die typische Antwort: Es kommt darauf an. Fest steht, dass für jede Bestimmung gesondert geprüft werden muss, ob die Voraussetzungen für eine Vorwirkung vorliegen.
Häufig aufgeworfen wird die Frage bezüglich der Konzessionsrichtlinie 2014/23/EU. Danach sind künftig, anders als bisher, auch Dienstleistungskonzessionen in förmlichen Vergabeverfahren auszuschreiben. Insoweit werden Bedenken gegen die von einigen Auftraggebern erwogene Möglichkeit geäußert, noch rasch langfristige Dienstleistungskonzessionen zu vergeben, um diese für einen langen Zeitraum der neuen Konzessionsrichtlinie zu entziehen.
Spannend wird sein, ob sich auch Auftraggeber auf eine Vorwirkung berufen können, etwa bei der neuen 20-%Grenze für das bei In-House-Geschäften zulässige Drittgeschäft. Dafür spricht, dass es erklärtes Ziel ist, den Anwendungsbereich von Inhouse-Geschäften zu erweitern. Zudem wird ein jetzt geschlossenes Inhouse-Geschäft in vielen Fällen über 2016 hinausreichen, so dass es eigentlich nur um den verbleibenden Zeitraum der Umsetzungsfrist geht. Dagegen spricht aber, dass Mitgliedstaaten ein strengeres nationales Vergaberecht vorsehen können und damit theoretisch an der 10-%-Grenze der bisherigen EuGH-Rechtsprechung festhalten könnten. Mit diesem Argument könnte allerdings fast jeder Richtlinienbestimmung die Vorwirkung genommen werden.
Den Mitgliedstaaten und allen zu ihnen gehörenden öffentlichen Auftraggebern ist einstweilen zu raten, im Zweifel keine Maßnahmen zu ergreifen, die die künftige Geltung dieser Bestimmungen beeinträchtigen könnten.